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Tanzende Riesen & pochende Herzen

Aus dem Fenster eines Wiener Mietshauses beobachte ich, wie ein alter Hund ohne Leine aus einer Straßenbahn heraus humpelt. Meine Gedanken stocken, als ein Mann im Rollstuhl das Bild abrundet. Er fährt der Nacht entgegen und der Hund folgt ihm. Egal wohin ihre Wege führen mögen, sie werden sie zusammen beschreiten. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Sie brauchen keine Leine, keine physische Bindung. Sie haben einen Anfang und die Gewissheit somit auch ein Ende erleben zu dürfen. Neben mir steht eine Frau. Es breitet sich eine gewisse Vertrautheit in mir aus, obwohl wir uns erst seit ein paar Tagen kennen. Und doch schwingt die Angst, wieder verletzt zu werden, immer mit. Ich blicke in ihr vom Mondschein erhelltes Gesicht und ertappe mich dabei, wie ich in ihren Augen versinke. Es ist ein schönes Versinken, die Sterne funkeln in ihren Pupillen. Das helle Licht des Lusters, der über ihrem Sofa hängt, wirft zarte Schatten unserer Umrisse auf die gegenüberliegende Hauswand. Wir wirken gigantisch und stark. Wie tanzende Riesen umgarnen sich unsere Schatten vorsichtig. Nirgendwo anders würde ich mir in dieser Nacht lieber den Mond ansehen. Schon oft habe ich mir den Mond angesehen, aber dieses Mal fühlt es sich anders an. Ich spüre mich ganz bei mir selbst. Sie lehnt sich an mich. Pochende Herzen geben den Rhythmus vor. Die Schatten verformen sich zu einem Ganzen und wir schauen uns immer wieder tief in die Augen. Es klopft und knistert. Wir berühren uns geistig intim, eng aneinandergeschmiegt und doch ganz feinfühlig. Noch haben wir uns nicht geküsst. Es fehlt das letzte Viertel, der letzte Tropfen Gewissheit, das letzte richtige Wort – ja, die letzte Portion Mut, endlich die Angst vor der Zerbrechlichkeit und der Verletzlichkeit aus vergangenen Tagen mit den Nebelschwaden der Nacht ziehen zu lassen. Doch genau das braucht es, um dem Anfang eine wahrhaftige Chance zu geben. Die Zeit ist jetzt. Alles hat irgendwann ein Ende, aber es braucht erst einen Anfang.

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