Kapitel 1

„Die Liebe ist tot, es lebe <3“

 

Ingrid musterte mich eindringlich mit ihren tiefblauen Augen, dann nahm sie einen kleinen Schluck aus ihrem Rotweinglas. Ich war etwas nervös und bemerkte, dass meine Hände, mit denen ich mich angespannt auf ihrer Ledercouch abstützte, leicht schwitzten. Ingrid hingegen schien sehr entspannt. Ihre Entspanntheit war wohl auch dem Rotwein geschuldet, den sie sich in regelmäßigen Abständen in kleinen Schlückchen zukommen ließ. Dabei wirkte sie bei jedem noch so kleinen Schluck, als würde das Glück höchstpersönlich in ihrem Mund vorbei-schauen und ihren Gaumen umgarnen. Ingrid neigte sich leicht, mit einem zufriedenen, aber doch interessierten Blick, nach vorne. Ich konnte ihr in dem Moment etwas zu tief in den Ausschnitt schauen. 

 

So geschah es, dass ich für einige Augenblicke den Faden verlor. Meine Versuche, den tiefen Einblick, den sie mir gerade mehr oder weniger freiwillig darbot, zu ignorieren, kosteten mich etwas Mühe. Doch ich schaffte es, mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich holte kurz Luft und fuhr fort:

 

»Diese App „<3“ ist wohl einfach nichts für mich... Vielleicht ist sogar das Daten im Allgemeinen nichts für mich... Wozu soll das denn gut sein? Hier ein Drink mit einer Frau, da ein sinnloser Spaziergang und das ganze Geschreibe davor, manchmal wochenlang. Dann tut man so, als wäre man so gut wie in einer Beziehung. Schließlich trifft man sich im realen Leben, um eine Stunde später wieder getrennte Wege zu gehen, weil es doch nicht passt. Vor allem, da man das ja nach einer Stunde wirklich schon so sicher sagen kann. Ich jedenfalls nicht! Ich weiß ja nicht... Ich meine, wenn ich potthässlich, ein Außerirdischer oder sogar ein Nazi wäre oder stinken würde... Stinke ich etwa?! Habe ich irgendwas an mir, das nicht stimmt, und ich merke es nicht???«

 

Ich seufzte frustriert.

 

Ich war einer jener Typen, die jahrelang in ihre beste Freundin verliebt sind, ohne dass diese auch nur einen blassen Schimmer davon hat. Jahrelang reichte mir die Stellung des besten Freundes in der Hoffnung, es würde ihr schon irgendwann von selbst oder durch eine göttliche Fügung die Erleuchtung kommen, dass ich wohl ihr Traumprinz sein musste. Ich redete mir Tag für Tag ein, ich wäre mit den ritterlichen Tugenden der Verehrung ausgestattet und ich müsse nur lange genug für sie da sein. Eines Tages würde ich schon auf einem weißen Pferd in ihr Schlafgemach hereinfliegen und sie mein Ein und Alles nennen dürfen. Sie hingegen schwärmte regelmäßig von Torsten, diesem eingebildeten Rugby-Spieler, der sie ohnehin die meiste Zeit nur ignorierte.

 

Ich denke, viele von uns kennen solche oder ähnliche Geschichten, sie gehören zum Leben dazu. Die einen heiraten ihre Jugendliebe, bekommen Kinder und sind glücklich, bis die Midlife-Crisis sie trifft und der Swingerclub grüßt. Andere vögeln sich durch die Weltgeschichte, bis ihnen eine Herzallerliebste auf Zeit in den Schoß fällt. Ein paar wenige verlieren ihre Jungfräulichkeit, weil sie von der Nachbarin nebenan verführt wurden, als ihr Mann nicht zu Hause war und behalten eine Art Mutterkomplex. Für diese Gattung gibt es nichts Anziehenderes als eine MILF. Sie werden zu Jägern auf Lebenszeit. Sie agieren meist im Verborgenen, bis auf jene, welche auf gesellschaftliche Konventionen nichts geben.

 

Nicht zu vergessen sind, wenn man schon von gesellschaftlichen Konventionen spricht, jene, die das älteste Gewerbe der Welt in wiederkehrenden und rhythmischen Abständen frequentieren. Von dieser Sorte soll es sogar gattungsübergreifend einige geben, die das Rotlicht am Flackern halten und dafür sorgen, dass die Bordellbesitzer ihre Strom-rechnungen bezahlen können.

 

Sonst wäre es wohl irgendwann das schwarze Gewerbe, der Letzte dreht das Licht aus, ein letzter Aufschrei und das war es. Ob auch hier die Digitalisierung mit Sexrobotern Einzug finden wird und sich so ganz neue Spielwiesen auftun, das wäre zwar ein interessantes Thema, aber darum sollte es jetzt nicht gehen.

 

Es ging schlicht und einfach um mich! Um mich, Hannes Müller, stolze 23 Jahre alt und Kunststudent. Dabei war ich weder besonders kunstinteressiert noch wirklich künstlerisch talentiert. Doch irgendwie war ich wohl eine Art Performance-Künstler, was die Liebe betraf. Nicht im bildlichen Sinne der Bettakrobatik, sondern eher was das unermüdliche Scheitern anging. Ja, es geht hier um mein Liebesleben, beziehungsweise meine Einstellung gegenüber der Suche nach einem paarungswilligen Wesen im digitalen Zeitalter. Da hatten es doch nun wirklich schon Millionen und Milliarden anderer vor mir geschafft. Doch ich war wohl anders. Für mich schien seit Beginn meiner Pubertät das Thema Liebe wie ein nicht erklimmbarer Gipfel, eine steile Kletterwand, die bis in die Wolken ragt. Ich gab mir Mühe und kletterte so vor mich hin. Manchmal fand ich sogar eine Nische, in der ich mich kurz aufhalten und verschnaufen konnte, aber den Gipfel wollte ich einfach nicht erreichen, geschweige denn konnte ich ihn auch nur in der Ferne erblicken, wenn die Wolken sich mal verzogen.

 

Nun gut, ich gehörte zu keiner der vorher aufgezählten Gattungen. Jedenfalls sah ich das so. Für mich müsste man wohl eine ganz neue Kategorie erfinden. Vielleicht bin ich eine nicht so talentierte Bergziege, die sich am Strand einer kleinen einsamen Insel in der Karibik verlaufen hatte, auf der es keine Berge gab. Ich denke, so könnte man das ganz gut ausdrücken, wenn man bei dem Bild des felsigen Berges mit seiner Kletterwand bleiben will.

Hin und wieder zwinkerte mir eine schöne Delfindame vom Meer draußen zu, aber ich schaffte es einfach nicht, mich ihr zu nähern. Einerseits lag es wohl daran, dass ich mich eher wie eine Ente aus Blei fühlte, jedenfalls was das Schwimmen betraf. Andererseits schreckten mich die Haiflossen auf dem Weg raus aufs Meer dann doch sehr ab. Ein Floß zu bauen, wäre eine Möglichkeit gewesen, aber es gab nur eine einzige Palme auf der Insel und die wollte ich nicht opfern. Man weiß ja nie, wofür man die noch gebrauchen konnte. Zu viel riskieren gehörte einfach nicht zu meinen wesentlichen Charakterzügen.

 

Ingrid unterbrach meine Gedankenspiele abrupt. 

 

»Warum <3 löschen? Besonders jetzt? Es ist Hochsommer und die Weiber da draußen spielen doch alle verrückt! Die Hitzewelle und dieser herrliche Badesommer lassen die weiblichen Hormone in der Sonne Pingpong spielen.«

 

Hätte ich gerade auch ein Glas Wein in der Hand gehabt und just in dem Moment einen Schluck getrunken, dann hätte ich den Wein wohl vor Schreck auf Ingrids Ledergarnitur geprustet. So eine Aussage erwartete ich von vielen männlichen Geschöpfen in meinem Alter, aber nicht von ihr!

 

Ingrid war 60 Jahre alt und seit ein paar Wochen meine Psychologin, die ich aufgrund meines Gefühls, eine Bergziege auf einer Insel ohne Berge zu sein, aufsuchte. Na ja, so ganz stimmte das an sich nicht. Meine Mutter wollte das eigentlich, aufgrund eines gewissen Vorfalls vor einiger Zeit. Auf den Vorfall werde ich noch zu sprechen kommen. Trotzdem hoffte ich, Ingrid könnte so etwas wie ein Leuchtturm auf meiner Insel sein. Sie sollte mir helfen, ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen. Nach den unzähligen Liebesratgeberblogs, Dating-Experten auf YouTube und Büchern wie „Als Gewinner auf <3 unterwegs“, wollte ich einen neuen Blick auf das Thema Liebe bekommen. Ich hatte genug von den Enttäuschungen.

 

Nach meiner nie stattgefundenen, imaginären Romanze als holder Ritter mit meiner besten Freundin als Prinzessin, welche übrigens in einem totalen Fiasko endete, war ich zum Studieren aus der Provinz in die Großstadt gezogen. So wie die Bergziege in meinem Kopf auf der Insel, war ich nun das Landei in der Großstadt. Ich brauchte einfach einen Tapetenwechsel nach dieser Enttäuschung. Diese lag jetzt schon über ein Jahr zurück, aber alles ganz zu vergessen, fiel mir schwer. Doch die räumliche Distanz tat mir irgendwie gut.

 

Der Anfang vom Ende dieser Enttäuschung nahm seinen Lauf in einer warmen Sommernacht. Meine damalige beste Freundin, ich und noch einige andere Freunde waren auf einem kleinen Bauernfest, wie so oft, in unserem Dorf. Es war wie eigentlich immer ein rauschendes Fest mit viel Bier und sonstigen alkoholischen Getränken, die wir im Dorfslang liebevoll „Glück im Becher“ nannten. Die Stimmung war ausgelassen. Ausgelassen ist in dem Fall ein sehr harmloser Begriff. An sich war die Stimmung ab einer gewissen Uhrzeit an der Grenze zur ekstatischen Eskalation. Die meisten der Anwesenden waren schwer betrunken und eine schwerelose Leichtigkeit des Seins hallte mit DJ Ötzis Stern durch die sternenklare Nacht. Die Leute tranken, sangen, umarmten sich und manche küssten sich. Alles war wie immer. Fast alles!

 

Meine Leichtigkeit jedenfalls war dahin, als ich sah, wie Torsten auch plötzlich mit seiner „coolen“ Gang auf dem Fest auftauchte. Eigentlich ignorierte er meine beste Freundin immer. Er wusste natürlich, dass sie auf ihn stand, aber an sich existierte so gut wie kein Mädchen im Umkreis, das nicht auf Torsten stand. Also gab es keinen wirklichen Grund zur Beunruhigung. An jenem Abend aber ließ mich meine Nervosität einfach nicht mehr los. So mussten mir einige Becher voll Glück Gesellschaft leisten.

 

Ich war kein Tänzer. Ich mied die Tanzfläche, so gut es ging, und platzierte mich, wie es sich gehörte, weiter hinten im Festzelt auf einer Bierbank. Eine Runde Glück im Becher nach der anderen gesellte sich zu mir und meinen Freunden an den Tisch. Ganz nach dem Motto: Die Tänzer tanzten und die Trinker tranken. Aber als Ina, die beste Freundin meiner besten Freundin, irgendwann angewidert bei mir am Tisch ankam, sich ein Bier schnappte und in einem Zug runterkippte, da wusste ich: Irgendwas stimmte hier nicht! Mein mulmiges Gefühl schien sich zu bekräftigen.

 

Ich stand auf, um besser auf die Tanzfläche sehen zu können. Mich traf fast der Schlag! Meine beste Freundin lag eng umschlungen in den Armen von Torsten. Es war passiert. Mein persönlicher Super-GAU trat ein! Dagegen waren Tschernobyl und Fukushima nur kleine Verpuffungen. Mein Magen verkrampfte, mir wurde schlecht und eine innere Wut stieg hoch, wie vor einem Vulkanausbruch. Ich kochte. Am liebsten wäre ich sofort hingestürmt und hätte die beiden irgendwie auseinandergerissen. Aber ich konnte nicht, ich war wie gelähmt und außerdem wäre das absolut peinlich gewesen, besonders da ich meiner besten Freundin auch niemals meine Liebe gestanden hatte. Sie war total ahnungslos. Und es sollte noch schlimmer werden.

 

Die beiden Turteltäubchen wollten mir und meinem gedemütigten Herz wohl einen weiteren Tritt versetzen. Okay, zu ihrer Verteidigung, sie wussten nicht, was sie taten, aber es war trotzdem grausam. Sie konnte nicht wissen, wie ich mich jetzt fühlte. Die beiden verlagerten ihr Geknutschte von der Tanzfläche nach hinten zu den Tischen, genau dorthin. Ich stand reflexartig auf, ging zur Bar, bestellte mir so viel Whiskey, wie meine Geldbörse noch hergab. Es waren fünf ordentliche Gläser, voll mit hochprozentigem Glück. Ich trank eines nach dem anderen auf Ex und wollte mich so beruhigen - meine Schmach hinwegspülen. Dann drehte ich mich um und wankte nach Hause.

Jedenfalls war das mein Plan. Doch auf halber Strecke entkrampfte sich mein Magen für einen kurzen Moment, um sich dann komplett zu drehen. Dies wiederum hatte zur Folge, dass ich mich direkt auf die Straße übergeben musste. Mein gesamter Mageninhalt floss wie heiße Lava, langsam aber doch beständig, über den Asphalt. Der Vulkan war ausgebrochen. Ich schaffte noch ein paar Schritte weiter und setzte mich auf die Bordsteinkante. Ich musste weinen. Mir kam, im wahrsten Sinne des Wortes, alles hoch. Noch nie hatte ich mich so verletzt und gedemütigt zugleich gefühlt. Zitternd und schluchzend holte ich mein Handy aus meiner Tasche. Der Ratschlag schlechthin, dass wenn man betrunken ist und sich emotional leicht neben der Spur fühlt, man auf keinen Fall - niemals, niemals, NIEMALS - betrunken emotionale SMS verschicken sollte, ja, der Ratschlag war wohl mitsamt meinem Mageninhalt die Straße hinuntergespült worden. 

 

»Nein mein lieber Hannes, du bist ein äußerst sympathischer und attraktiver junger Mann, aber du siehst das alles viel zu eng. Du musst lernen, lockerer zu werden du kannst die Liebe nicht erzwingen. Du musst lernen, deine Gefühle offen auszudrücken. Sammle doch deine Erfahrungen, es gibt keine Regeln. Erlaubt ist, was dir guttut... Dramas gehören ins Kino, dein eigenes Leben gehört dir! Hier bist du der Regisseur...«

 

Ingrid hätte sich eigentlich schon in den Ruhestand zurückziehen können, aber sie schaffte es einfach nicht wirklich, ihre kleine, gemütliche Praxis ganz aufzugeben. Deswegen nahm sie immer wieder sporadisch neue Patienten auf, bevorzugt jüngere Menschen, denen sie dabei helfen wollte, bei kleinen und mittelschweren Krisen im Leben wieder auf die Beine zu kommen. Sie hatte langes graues Haar, trug eine sehr große schwarze Hornbrille mit dicken Gläsern, hinter denen ihre blauen Augen sehr hervorstachen. Ein dicker dunkelroter Lippenstift bedeckte ihre Lippen. Ansonsten war sie nur sehr dezent geschminkt und trug gerne offene Blusen, in denen ihre doch recht großen Brüste etwas auffielen. Ich versuchte, ihre Brüste so gut es ging, zu ignorieren. Aber es fiel mir nicht leicht, denn trotz meiner großen, idealistischen Vorstellungen von Liebe merkte ich dann doch immer wieder, wie plump eine Frau meine Aufmerksamkeit, rein durch optische Reize, auf sich lenken konnte. Dann spielten auch meine Hormone verrückt und das Pingpong Spiel ging los.

 

Ich weiß nicht warum, aber irgendwie erinnerte mich Ingrid ein wenig an meine nun ex-beste Freundin, nicht unbedingt optisch, aber irgendwas hatten sie gemeinsam. Ich konnte es nur nicht so richtig ausmachen.

Der Inhalt meiner SMS, die zu Folge hatte, dass neben meinen heldenhaften Liebesfantasien auch noch die Freundschaft mit meiner damaligen besten Freundin in die Brüche ging, war recht plump. Und doch schlug sie ein wie eine Bombe und verursachte einen sehr großen Schaden, der irreparabel schien.

 

Die wirre SMS, die ich ihr geschickt hatte, lautete wie folgt:

 

»DU TRÄGST KEINE LIEBE IN DIR! NEIN FALSCH! DU BIST MEINE LIEBE NICHT WERT. WEIßT DU ÜBERHAUPT, WAS LIEBE IST? L I E B E... ICH WOLLTE DEIN RITTER SEIN, NICHT DIESER IDIOTISCHE TORSTEN. WIR BEIDE WAREN DOCH FÜREINANDER BESTIMMT, WARUM HAST DU DAS NICHT GEMERKT?! ICH MUSS JETZT MEINE KONSEQUENZEN ZIEHEN! AB SOFORT BIST DU NUR NOCH MEINE EX-BESTE FREUNDIN UND ICH LADE DICH HIERMIT OFFIZIELL VON MEINEM BEGRÄBNIS AUS!!!!1!!1 SOLLTEST DU MEINEM WUNSCH NICHT NACHKOMMEN, DROHE ICH DIR MIT EINER UNTERLASSUNGSKLAGE! «

 

Ich hatte im Eifer des Gefechts meine beste Freundin, als ich wie ein Häufchen Elend am Straßenrand saß, von meinem Begräbnis ausgeladen. Zusätzlich drohte ich ihr mit einer Unterlassungsklage, sollte sie jemals mir oder dann später meinem Grab zu nahe kommen. Wer dann genau nach meinem Tod dafür Sorge tragen sollte, dass mein Wunsch auch eingehalten werden würde, soweit hatte ich dann doch nicht nachgedacht.

 

Jetzt im Nachhinein mag wohl so mancher über diese SMS schmunzeln, aber damals hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Die Schwester meiner ex-besten Freundin war einige Jahre zuvor bei einem schlimmen Autounfall zu Tode gekommen. Seitdem verstand sie keinen Spaß mehr, was solche Themen betraf. Besonders, da ich nach der SMS mein Handy ausgeschaltet hatte und so bis zum nächsten Tag zu Mittag nicht erreichbar war. So einen Alkoholrausch musste man halt ordentlich ausschlafen. Meiner nun ex-besten Freundin war in jener Nacht nicht mehr zum Lachen zumute. Sie machte sich große Sorgen und hatte Angst, ich könnte mir was antun. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass ich noch lebte, kündigte sie mir die Freundschaft. Sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich hatte nie vor, mich umzubringen, wirklich nicht, aber darüber nachgedacht, was meine Nachricht auslösen würde, hatte ich noch weniger. Es war im Nachhinein betrachtet wohl das Gesündeste, was mir damals passieren konnte. Ich war wieder frei, losgelöst von den schweren Ketten einer Liebe, die nur in meiner Fantasie existierte. Aber es tat weh, verdammt weh und ich fühlte mich einfach nur unendlich dumm.

 

Auf den ersten Blick wirkte Ingrid meist doch etwas einschüchternd mit ihrer strengen, aber doch leicht koketten Art. Im Grunde jedoch hatte sie einen sehr weichen und anschmiegsamen Charakter. Durch diese Kombination von Härte auf den ersten Blick und ihrer weichen Art auf den zweiten Blick, konnte sie schon so manchen Patienten aus der Reserve locken. So wohl auch mich, ich war anfangs dann schon etwas eingeschüchtert und als ich merkte, dass dies bei ihr nur eine Fassade war, fühlte ich mich irgendwie erleichtert und konnte mich sehr gut öffnen. Ich erzählte ihr viel von meiner Erfahrung mit meiner ex-besten Freundin, aber auch von meinen ersten wackeligen Versuchen in der Dating-Welt des Großstadtdschungels. Die Großstadt war vielleicht dann doch besser als eine einsame Insel, aber auch nicht wirklich das gewohnte Terrain einer Bergziege.

 

Ingrid war ihr Leben lang nie verheiratet gewesen und hatte auch keine Kinder. Ausgerechnet von dieser Frau sollte ich Tipps bekommen, wie ein glückliches Liebesleben funktioniert. Ich war schon skeptisch. Aber ihre leicht großmütterliche Art, gepaart mit diesen koketten Verhaltensmustern, die einen vermuten ließen, dass diese Frau genau wusste, wie Männer ticken, beruhigte mich im Endeffekt dann doch. Ich war wohl einerseits ein bisschen naiv, aber andererseits dachte ich mir, wenn ich schon 150 Euro die Stunde bezahle, um hierher zu kommen, dann sollte ich es vielleicht versuchen. Genau genommen bezahlte meine Mutter die Stunden, aber das änderte nichts an meinem Dilemma und noch weniger, dass es viel Geld war. Ingrid hatte ja recht! An sich hatte ich nichts zu verlieren, schlimmer oder verrückter als in jener Nacht konnte es ja nicht mehr werden. Das jedenfalls dachte ich und löschte <3 nicht. Hätte ich damals nur geahnt, was auf mich zukommen würde…