· 

kapitel 7: eine runde schnaps für den starken harald, prost!

Weltmetropole an der Donau, 3, März 2013

 

Es war eine dieser Nächte, die dunkler nicht sein konnten, eine dieser Wiener Nächte wie in jener Nacht als ich „smoking P.“ traf. Doch es war kein Hochsommer mehr, der Nebel einer sehr kalten Frühjahrsnacht schlich durch die Wiener Gassen. Das Licht der Sterne drang nur mühsam an die Erdoberfläche und selbst der Vollmond vermochte wenig auszurichten. Es heulte zwar kein Wolf, aber dafür fluchte ein älterer Mann am Würstelstand über das trockene Brot, welches seinen Käsekrainer umrundete, bevor er sich noch ein Dosenbier gönnte. Auf der anderen Straßenseite stapfte ein einsamer Wanderer durch die Dunkelheit.

 

Ein eisiger Wind pfiff durch die verlassenen Gassen und spielte mit den wenigen Haaren, die dem Wanderer im Laufe der Zeit noch geblieben waren. Die Haarfransen tänzelten über sein nacktes Haupt. In der Ferne hörte er Musik und lautes Lachen. Er blieb stehen und lauschte. Er höre gelegentliches Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden. Das gab ihm wieder Motivation und mobilisierte seine letzten Kraftreserven, um seinen Weg fortzusetzen. Er richtete den Blick nach vorne, nahm tief Luft und setzte einen Fuß vor den anderen. Seine Schritte wirkten etwas holprig und ungleichförmig. Aber das war ihm egal. Langsam und stetig setzte er seinen Weg fort. 

 

Sein Entschluss war ihm im Gesicht abzusehen, er nahm einen letzten Schluck aus einer großen Weinflasche und schmiss diese weg. Für ihn stand fest, sein nächstes Ziel musste diese verlassene Taverne irgendwo im Nichts sein. Er konnte weit und breit keine Menschenseele erblicken, alles wirkte auf ihn wie ausgestorben. Es gab nur ihn, den Weg und die Taverne am Ende des Weges. Er bog um die Ecke, sah das schummrige Licht, welches aus den dreckigen Fenstern der Taverne in die neblige dunkele Nacht zu entfliehen versuchte. Er hörte die klapprige alte Eingangstür, welche nicht mehr perfekt ins Schloss fiel und manchmal durch den Wind hin und her gerüttelt wurde.

 

Er vernahm Musik, Gerede und laute Gesänge. Jetzt war er sich sicher, dass er endlich auf menschliche Wesen treffen würde. Schank und Mahl waren ihm gewiss, er kramte nach den letzten Goldtalern in seinem Gewand und fand einige glänzende Münzen. Musik drang in sein Ohr, sie klang für ihn fremdländisch und doch so wohlig bekannt. 

 

So oder so ähnlich habe ich mir die Gedankenwelt von unserem Wanderer Harald oder „der starke Harald“, wie ich ihn dann später taufen sollte, vorgestellt. Im Innern der Taverne herrschte reger Betrieb. Eine große Meute von Gottes trinklustigen Wesen wollte bedient werden. Im Vorderraum mit der Eingangstür saßen einige einsame Seelen direkt am Tresen. Die alte etwas schrullige Barfrau regierte mit eiserner Faust hinter dem Zapfhahn. Gekonnt ließ sie das Bier in die Gläser ein, um dann geschwind wieder zwischen den Tischen hin und her zu eilen. Sie ließ keine durstigen Wünsche offen.

 

Hin und wieder musste sie allzu aufdringliche und laute Gäste in ihre Schranken weisen. Dies funktionierte jedoch ganz gut. Auf einem Barhocker, direkt am Tresen saß der verliebte Manfred. In seinen Augen war die Barfrau keine 70ig jährige vom Leben gezeichnete Frau mit Oberlippen-Bartwuchs und Haarschwund, sondern eine holde entzückende Maid. Manfred war unsterblich verliebt und schmachtete so vor sich hin! Im zweiten Raum ganz hinten, da stand eine Jukebox, aus der das immer gleiche Lied drang. Die immer gleiche Platte drehte sich und drehte sich. Verzweifelt versuchten Leute Münzen in die Juke-box zu schmeißen, um einen anderen Song auszuwählen, doch es war sinnlos. Warum das so war? Ganz einfach! 

 

Meine Kumpanen und ich hatten so viel Geld im Voraus in die Jukebox eingeschmissen, dass mindestens 15 Wiederholungen von unserem Lieblings-Song gesichert waren. Das brachte andere Mitbewerber, welche sich um die Gunst der Jukebox anreihten, zum Verzweifeln. Mann um Mann, Frau um Frau kapitulierte. Die Musikbox war wieder ganz allein unser, wie so gut wie jeden Freitag in jedem Jahr. Die Bierdeckel flogen durch den Raum und die Stimmung war sehr feuchtfröhlich. Wir feierten uns und „unseren“ Song, wir schworen uns die Freundschaft auf ewig, lagen uns in den Armen, schunkelten und busselten herum. Die Stimmung war ausgelassen. 

 

Wir waren zu sechst an der Zahl. Anita, Laura, Moritz, Daniela, Dieter und meine Wenigkeit. Während Moritz und Daniela so vor sich hin tuchtelten und den Rest um sich herum vergaßen waren der Rest der Meute in ungebremster Feierlaune. Während wir ausgelassen rumalberten, näherte sich der verliebte Manfred unserem Tisch. Später nannten wir ihn nur noch liebevoll „Herzblatt-Mani“. Er war wohl um die 75 Jahre alt, hatte eine riesige Kartoffelartige Nase, abstehende Ohren und ein Glasauge. Sein Kopf war recht kahl und mit Leberflecken übersät. An den Seiten über und hinter seinen Ohren waren noch ein paar längere Haare übriggeblieben. Recht dick war er und sein Leib bedeckte ein kariertes Hemd, darunter hing eine sehr weite Hose mit ein paar kleinen Löchern, die durch zwei extra breite Hosenträger gehalten wurden, damit sie nicht ganz runterrutschte. 

 

Einer der beiden Hosenträger hatte sich im Laufe des Abends etwas gelockert und so saß die Hose nicht mehr so ganz wie sie sollte. Herzblatt-Mani war das egal. Er setzte sich ungefragt an unseren Tisch, und zwar direkt neben mich. Er schaute mich über seine dicken Brillengläser drüber an, schwitzte stark und sagte: „Gestatten, Manfred mein Name!“ Er ließ sich selbst keine Pause zum Atmen und fuhr sofort schnaufend mit einer Fragestellung fort: „Wer ist denn die holde Dame gegenüber von Ihnen? Ich würde gerne um ihre Hand anhalten!“ Er deutete auf Anita, welche etwas, nennen wir es mal gedankenverloren in den Raum starrte, und prompt ein Bierdeckel ihr Gesicht als Landeplatz nutzte.

 

Anita kam wieder etwas zu sich und schaute verdutzt in die Richtung, wo Mani saß, der mit seinem etwas krummen, verschrumpelten Zeigefinger auf sie deutete. Ich konnte mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Da ich den Spaß nicht entgehen lassen wollte, entgegnete ich: „Ach Sie meinen unsere liebreizende Anita? Na, nur keine Scheu...“ und flüsterte ihm ins Ohr: „...aber seien Sie auf der Hut, sie kann auch sehr wild und widerspenstig sein.“ Ich zwinkerte ihm zu und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Da hatte sich Herzblatt-Mani schon von mir abgewendet. Er starrte Anita verliebt mit seinen großen Augen an. Kann auch aber sein, dass die Augen auch nur so groß durch die zu dicken Brillengläser gewirkt haben. Die Kellnerin schien unser Herzblatt-Mani wohl schon vergessen zu haben. Er setzte seine normale Brille ab und zog seine Lesebrille an. Dann zückte er aus seiner vorderen Hemdtasche einen Fetzen Papier und einen sehr alten Kugelschreiber. 

 

Den Fetzen Papier legte er auf den Tisch vor sich und begann zu schreiben. Anita trat mir unter dem Tisch gegen mein Bein und schaute mich etwas böse an. Dann rempelte mich Dieter an und zeigte Richtung Tür. Harald, der einsame Wanderer, stand im Lokal und blickte etwas hilflos herum. Dieter raunte mir ins Ohr: „Der gefällt mir! Dem gebe ich einen aus!“ und schon war er unterwegs. Harald hatte ein schwarzes Polo an, eine kurze Trainingshose und seine Füße steckten in Badelatschen mit weißen Strümpfen. Er hatte eine recht muskulöse Statur und war fast komplett kahlköpfig. Sein strenges Gesicht verkrampfte, als er die Stufen ins Lokal hinunterschritt, und die auf seiner Nase platzierte „John Lennon“ –Gedächtnisbrille anlief.

 

Er torkelte etwas und war wohl nicht mehr sehr nüchtern. Dieter quatschte ihn an, legte seinen Arm um ihn und wollte ihn zu unserem Tisch geleiten. Harald schubste Dieters Arm von seinen breiten Schultern, folgte ihm dann trotzdem widerwillig murrend. Zurück am Tisch schrie Dieter zur Barfrau: „Zwei Schnaps für mich und den werten Herrn.“ Die Barfrau war auf Zack und so standen sogleich zwei Schnaps bereit. Dieter rückte einen Schnaps zu Harald rüber, doch der wollte erst trinken, wenn Dieter auch einen Schluck aus seinem Glas genommen hatte. Harald beugte sich zu mir rüber, ich konnte im schummrigen Licht seine alte ledrige aber doch recht straffe Haut erkennen, seine Oberarme sahen recht trainiert aus. Er raunzte in meine Richtung: „Ich trau euch Halunken nicht, besonders nicht deinem Kumpel da! Ach, Scheiß drauf!“ Dann setzte er an und goss den Schnaps mit einem Ruck runter, ohne anzustoßen.

 

Dieter bestellte die nächste Runde. So ging das munter weiter, während unser lieber Herzblatt-Mani weiter eifrig auf sein Blatt Papier kritzelte. Anita träumte wieder munter vor sich hin. Moritz und Daniela hatten nach wie vor keine Augen für ihre Umgebung. Laura, Dieter und ich versuchten mehr über unseren Harald rauszufinden. Dieser behauptete, ohne auch nur einen Moment seine grimmige Mimik aufzugeben, er wäre schon seit er 15 ist Bodybuilder, Judotrainer und MMA-Kämpfer. Er war sich sicher, er könnte, ohne mit der Wimper zu zucken, uns allen innerhalb von wenigen Sekunden das Genick brechen.

 

Dieter war begeistert von Harald und flüsterte mir ins Ohr: „Ich glaub der mag mich, echt ein cooler Kerl unser Harald hier.“ Und legte wieder seinen Arm über die Schultern von Harald während er diesen nötigte den nächsten Schnaps runterzuschütten. Harald wehrte sich wieder gegen Dieters Umarmungsversuch, dieses Mal schon etwas weniger rabiat, aber doch bestimmt. Dann beugte sich Dieter kurz Richtung Jukebox, um wieder Geld nachzuwerfen, dass nur keiner auf die Idee kommen sollte unsere Dauerschleife mit dem immer gleichen Song zu unterbrechen. In dem Moment zog mich Harald etwas unsanft an sich heran: „Freundchen sag mal deinem Kumpel hier er soll sich bissl zurücknehmen... der geht mir ganz schön auf die Nerven. Gleich vergesse ich mich, das kannst du mir glauben!“ In dem Moment wendete sich Dieter wieder von der Jukebox ab, zurück zu uns, besser gesagt er legte wieder seinen Arm um Haralds Schulter, zog ihn zu sich und gab ihm einen Kuss auf seine kahlköpfige Stirn. Ganz wohl war mir jetzt auch nicht mehr. Harald gefiel dies natürlich ganz und gar nicht. Sein Kopf lief rot an, sein Nacken quoll auf wie bei einem Stier, kurz bevor er zum Angriff ansetzt. Herzblatt-Mani interessierte das herzlich wenig, er war gerade fertig geworden mit seinem Schreiben. Er stellte sich auf einen Stuhl und begann laut sein Geschriebenes zu rezitieren. Doch man hörte ihn nur bruchhaft wegen der lauten Musik. Anita, an die er sich wandte, wusste nicht, ob sie vor Lachen von der Bank kippen sollte, oder doch eher vor Scham die Flucht ergreifen sollte.

 

Dann platzte es aus Harald heraus. Er sprang ruckartig auf, der Stuhl flog um. Ich erschrak und Dieter lachte unbeeindruckt. Die Musik spielte weiter und die meisten Leute im Lokal bekamen wenig von der skurrilen Szenerie mit. Harald schaute Dieter grimmig an: „Du weißt wohl nicht, wen du hier vor dir hast!? Ich würde dich ohne Probleme alle machen! Bam Bam!“ Harald zeigte auf seinen eindrucksvollen Bizeps an seinem rechten Arm, in dem seine Adern pulsierten. Man konnte es richtig spüren, wie sein Blut kochte. Dieter entgegnete lässig: „Na dann beweis es, mach 20 Liegestütze vor mir alter Mann, dann bekommst noch einen Schnaps.“ Harald keifte erbost zurück: „Willst du mich verarschen??!!!“ Ich hielt die Luft an, das war wohl ein Spruch zu viel. Ich befürchtete schon das Allerschlimmste und mir rutschte das Herz in die Hose. Harald hielt kurz inne, dann fuhr er fort: „Bursche, Ich mach dir 50 Liegestütze, und zwar einarmig hier sofort auf dem Boden zwischen den Tischen! Dann bezahlst du mir eine Flasche Wein und lässt mich in Frieden!“

 

Ich konnte meinen Augen und Ohren nicht trauen, aber Dieter willigte ein. Schon lag Harald auf dem Boden. Mani stand weiterhin auf dem Tisch und fuhr mit seinem Text fort. Anita schaute aber längst nicht mehr auf Mani, sondern wie alle anderen im Lokal auf Harald. Und Harald legte los, wie angekündigt: Liegestütze um Liegestütze, und zwar einarmig. Das ganze Lokal tobte vor Begeisterung und Dieter stimmte ein: „Harald! Harald! Harald ...“ und alle brüllten mit.

 

Bierdeckel flogen, die Barfrau schenkte weiter Bier ein und kümmerte sich wenig um Harald. Es verkehrten wohl regelmäßig schräge Gestalten in der Bar. Für die Barfrau gehörte das zum Alltagsgeschäft. Harald legte ein ordentliches Tempo vor. Schnell war er bei den versprochenen 50 Liegestützen angekommen und mit einem Ruck stand er wieder vor uns. „Da schaut ihr aber ganz schön blöd ihr Deppen, was?“ schrie er uns entgegen, ging zur Bar, bestellte sich eine Flasche Wein und schritt mit dieser wieder in die dunkle Nacht hinaus.

 

In Haralds Gedankenwelt musste er sich wohl wieder allein auf weiter Flur im Nichts, mit seiner Weinflasche, befinden. Aber in Wirklichkeit befand er sich weiter mitten im Herzen Wiens, an einem doch recht belebten Freitagabend, in einer kühlen, nebligen Frühjahrsnacht. Herzblatt-Mani hatte sich in der Hektik wieder zurück an den Tresen verzogen, wo er weiter sein Glück bei der Barfrau versuchte. Nur der Fetzen Papier mit unleserlichem Gekritzel lag noch da. Das Einzige, was ich an der Nachricht noch zu entziffern vermochte: „Für meine Anita, dein für immer Manfred!“. Zum Abschluss hatte er noch eine Telefonnummer hinterlassen, bei der jede zweite Zahl ein Herz war. Ich bestellte ein neues Bier. Sekunden später stand es vor mir und ich spürte, wie ein Bierdeckel meinen Kopf traf. Ich lachte und trank.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0